Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur

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Die Geburt der Medizin aus der Heilkunde

Den Geschichtsbüchern zufolge begann die Medizin mit der Entdeckung der Naturgesetze, die in der Folge auf die Funktionen des Körpers angewendet wurden. Diese Erklärung ist für Paul Unschuld allerdings keineswegs überzeugend, denn warum sollten die Menschen der Frühzeit ihre bisherige Heilkunde in Frage stellen. Im Gegenteil bot sie ihnen für alles eine Erklärung: Wenn jemand krank wurde, hatten Götter, Ahnen oder Dämonen das Leid geschickt. Gebete um Vergebung, Opfergaben und Buße brachten die gewünschte Wiedererlangung der Gesundheit. Krankheiten, die sich ungeachtet der Gebete, Opfergaben und Bußhandlungen nicht besserten oder gar zum Tode führten, waren unvermeidliches Schicksal. Zu groß war der Zorn der Götter, Ahnen, Dämonen oder Geister. Und andere Beschwerden und Erkrankungen wurden mit Heilmethoden (z.B. bestimmten Kräutern), die sich in der Praxis bewährt hatten, kuriert.

Weder hat das Aufkommen der wissenschaftlich begründeten Heilkunde die traditionelle Heilkunde so in den Hintergrund gedrängt, dass sie völlig in Vergessenheit geraten wäre, noch waren die Therapien der neuen Heilkunde von so überzeugender klinischer Wirksamkeit, dass alles für sie sprach. Der Reiz der neuen Medizin, so Paul Unschuld, lag vielmehr in einem neuen Zugang zur Welt, in einem neuen Verständnis, warum ein Mensch gesund ist oder krank wird.

Naturwissenschaft bedeutet die Annahme von Gesetzmäßigkeiten, die unabhängig von Ort, Zeit und Person das gesamte Geschehen im Universum bestimmen. Sie bedeutet eine radikale Abkehr von der Vorstellung, die Geschehnisse in der Welt seien das mehr oder weniger willkürliche Werk von Göttern, Ahnen und Dämonen. Seit undenklichen Zeiten aber hat gerade die Gewissheit um die Macht von Göttern, Ahnen und Dämonen, die in den Lauf der Dinge eingreifen können und beispielsweise Regen senden oder auch mit Dürre strafen, wesentlich das menschliche individuelle und gesellschaftliche Handeln bestimmt.

Wie, so fragt Paul Unschuld, kann jemand zur Annahme kommen, dass es nicht strafende oder wohlwollende Götter, Ahnen und Dämonen sind, die das Leben bestimmen, sondern absolute Gesetzmäßigkeiten. Die Lebenswirklichkeit der Menschen jener Zeit jedenfalls sprach gegen die Existenz von allgemeingültigen Gesetzen. Überall, ob in Familie, Clan oder Staat, kam es auf persönliche Beziehungen an und Emotionen wie Zorn, Liebe, Rache oder Mitleid bestimmten das zwischenmenschliche Verhalten.

Da sich die Natur und auch die Intelligenz der Menschen in dieser kurzen Zeitspanne nicht verändert haben, müssen andere Anlässe dafür verantwortlich sein, dass es im beginnenden dritten Jahrhundert vor Christi zur Erkenntnis von Naturgesetzen und zur Entwicklung der uns heute bekannten chinesischen Medizin kam. Was sich im wahrnehmbaren Umfeld der Menschen aber immer wieder verändert und sich in dieser Zeit auch dramatisch verändert hat, ist die Gesellschaft im Sinne der Strukturen und Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens: Den Quellen zufolge zerbrach im 8. Jahrhundert vor Christi auf Grund von Thronfolgestreitigkeiten ein stabiles Feudalsystem, und ab etwa 500 vor Christi kämpften eine Vielzahl von Staaten unterschiedlicher Bevölkerungszahl und geographischer Ausmaße um die Vorherrschaft. Eine immer kleinere Anzahl immer größerer Königreiche führte den Kampf mit wechselnden Allianzen so lange fort, bis schließlich im dritten Jahrhundert vor Christi das Königreich Qin das Ringen für sich entschied. Im Jahr 221 v. Chr. wurde das nun geeinte Kaiserreich begründet.


Der weltanschauliche Hintergrund

Die letzten drei Jahrhunderte des Kampfes um die Vorherrschaft werden als die „Zeit der Streitenden Reiche“ (475 v. Chr. bis 221 v. Chr.) bezeichnet und waren sowohl schöpferisch als auch traumatisch. Traumatisch, weil die bisherige Ordnung zerstört wurde, und schöpferisch, weil die Grundlagen jener Kultur hervorgebracht wurden, die wir heute als chinesisch bezeichnen.1Während der Zeit der Streitenden Reiche wurden die Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen entwickelt. Obwohl sich diese beiden Theorien zunächst getrennt entwickelt haben und, wie Paul Unschuld annimmt, auch miteinander konkurrierten, wurden sie während der frühen Han-Zeit (206 v. Chr. bis 221 n. Chr.) zu einem komplexen Ideensystem zusammengefasst. Seit dieser Zeit bilden sie die naturgesetzliche Grundlage der chinesischen Medizin, einer „Medizin der systematischen Entsprechungen“.

Wie auch andere Philosophien dieser Zeit wollte die Lehre von Konfuzius (551 bis 479 v. Chr.) einen Weg zu erneuter gesellschaftlicher Harmonie weisen. Die Lebenswelt, in der die innerfamiliäre Moral zugleich die Staatsmoral ist, war zerfallen. Konfuzius antwortete darauf mit einer Betonung verbindlicher Riten, die die Beziehungen zu den Ahnen, aber auch zwischen den Familienmitgliedern, regelten. Riten wurden zum Inbegriff des korrekten Verhaltens und schufen eine Ordnung der Lebenden und der Verstorbenen.

Der rechte Weg (Dao) wurde zum Inbegriff von Ordnung, und für den Konfuzianismus ist Ordnung in einer Gesellschaft nur dann möglich, wenn sich jeder Einzelne verpflichtet fühlt, durch sein Verhalten zu einer Gesamtordnung beizutragen.

Die staatlichen Strukturen der Frühzeit waren noch sehr von einer innerfamiliären Moral geprägt, die zugleich Staatsmoral war. Die Strukturen waren überschaubar und die Willkür der Handlungen des Herrschers wurde verstanden wie die Willkür im Familienverband oder Clan. Mit der Entstehung immer größerer politischer Einheiten in der Zeit der Streitenden Reiche entfernten sich Herrscher und Beherrschte jedoch zunehmend voneinander. Die wachsende Anzahl der Untertanen ließ es nicht mehr zu, dass Einzelfälle wie von einem Familienvater beurteilt werden konnten. Hier liegt der Beginn der Schematisierung der Beziehungen zwischen Herrscher und Beherrschten und auch zwischen den Beherrschten untereinander. Das Funktionieren großer staatlicher Einheiten erforderte verlässliche Entscheidungen, die nur durch eine Bindung an Regeln und Gesetze möglich waren. Gesetze wurden zunehmend als die Grundlage eines einigermaßen friedlichen Zusammenlebens betrachtet:

„Seit jeher hassen die Menschen einander. Das Herz der Menschen ist grausam. Daher erlässt [der Herrscher] Gesetze. Aus der Anwendung der Gesetze ergeben sich Riten. Aus der Durchführung der Riten erwächst Ordnung“ (Guanzi).

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Während der Zeit der Streitenden Reiche wurden die Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen entwickelt. Obwohl sich diese beiden Theorien zunächst getrennt entwickelt haben und, wie Paul Unschuld annimmt, auch miteinander konkurrierten, wurden sie während der frühen Han-Zeit (206 v. Chr. bis 221 n. Chr.) zu einem komplexen Ideensystem zusammengefasst. Seit dieser Zeit bilden sie die naturgesetzliche Grundlage der chinesischen Medizin, einer „Medizin der systematischen Entsprechungen“.

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