Ist Heilmassage eine wirksame Maßnahme oder nur eine Ergänzung der Aktivbehandlung? (Podiumsdiskussion am 24.01.2018)

Erde - Sonnenaufgang

Es war eine gute und spannende Diskussion, die von Mag. Dr. Sonia Raviola MSc am 24. Jänner moderiert wurde. Dieser Umstand war nicht nur dem Thema geschuldet, sondern auch den hochkarätigen Teilnehmer*innen, deren Schwerpunkte nachfolgend zusammengefasst sind, Chronologie und Wechselwirkungen vernachlässigend.

Diskutant*innen

Die Diskutant*innen (von links nach rechts): Dr. Ingrid Wilbacher, Univ-Prof. Dr. Gerold Ebenbichler, LIM Petra Felber, Mag. Gabriele Wieser-Fuchs, Prim. Prof. Dr. Andrea Zauner-Dungl, Constance Schlegl MPH, Hon. Prof. Dr. Rupp MBA, Romana Schöberl, Mag. Dr. Sonia Raviola MSc)

Nach der Begrüßung durch Landesinnungsmeisterin Petra Felber und der Vorstellung der Diskutant*innen durch die Moderatorin Mag. Dr. Sonia Raviola MSc eröffnet Frau Prim. Prof. Dr. Zauner-Dungl (Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Universitätsklinikum Krems) die Diskussionsrunde damit, dass sie aus ihrer nunmehr 30jährigen Tätigkeit als Fachärztin für physikalische Medizin wie auch aus ihrer persönlichen Geschichte die Stärken und Schwächen von Massage und Physiotherapie gut kennt.

Mit der Massage, die mit verschiedenen Techniken auf Haut, Bindegewebe, Faszien, Gelenke, Muskulatur und Organe wirkt, ergibt sich ein breites Wirk- und Indikationspektrum. Aber auch die Physiotherapie bietet eine Fülle von Konzepten und Ansätzen, so dass sie froh ist, beide Zugänge gezielt einsetzen zu können. Übereinstimmend mit Herrn Dr. Ebenbichler erachtet sie es als notwendig, das breite Repertoire verschiedener Maßnahmen zur Verfügung zu haben und nicht nur eine vorgegebene Kombination. Manchmal ist es notwendig, Menschen akut medizinisch zu behandeln, die nicht sofort mit einer Bewegungstherapie versorgt werden können, manchmal ist auch beides notwendig, weshalb es für sie als Ärztin wichtig ist, dass sie in ihren Verordnungen frei entscheiden kann.

Sie verstehe zwar, wenn man, wie die SGKK argumentiert, in 99% nur Kombinationen oder ausschließlich aktive Physiotherapie hat, dazu neigt, ein sehr einfaches System aufzusetzen, doch sollte dabei beachtet werden, dass dieses Bedürfnis nicht der differenzierten Auseinandersetzung der Ärzt*innen widerspricht. Es sollte, wie auch Dr. Rupp ausgeführt, das breitere Spektrum im Auge behalten und eine vernünftige Gesamtstrategie zum Wohle der Patient*innen entwickelt werden. Denn diejenigen, die es sich leisten können, bekommen, was sie möchten. Leidtragende sind die, die es sich nicht leisten können.

In der Massage gibt es allerdings große Unterschiede, denn ein*eine Masseur*in befasst sich in seiner*ihrer Ausbildung zum*zur medizinischen bzw. Heilmasseur*in 410 bzw. 620 Stunden mit Massage im Unterricht – das Praktikum kommt noch zusätzlich dazu. Demgegenüber werden der Massage in der Physiotherapieausbildung etwa 60 bis 80 Stunden gewidmet.

In ihrem eigenen Haus arbeiten 25 Physiotherapeut*innen und 6 Masseur*innen, die Zusammenarbeit klappt exzellent. In Salzburg scheint ihr die Situation allerdings verzerrt, wenn die Verfügbarkeit von Massage in Frage gestellt wird, weil sie nicht (viel) in Anspruch genommen wird. Bei ihr im Spital gibt es Verordnungen, die keine Physiotherapie beinhalten und physiotherapeutische Verordnungen, die keine andere Maßnahme beinhalten. Diese Vielfalt ist gut, weil sie den Patient*innen nützt.

In den 90er-Jahren gab es eine Initiative, in der es darum ging, dass Lymphdrainage nur von Physiotherapeut*innen gemacht werden dürfe. Das wurde glücklicherweise gestoppt, weil es dadurch zu einer massiven Minderversorgung gekommen ist. Zwar haben Physiotherapeut*innen Lymphdrainage in ihrem Ausbildungsspektrum, ihre Primärorientierung ist aber oft eine andere als (vorrangig) Lymphdrainagen zu machen. Die Masseur*innen hingegen machen das gerne und deshalb war es gut, dass man davon wieder abging.

Es sei ihr nicht verständlich, warum der gesetzlich definierte Gesundheitsberuf Heilmassage „ausradiert“ werden soll, denn darauf führe das „Salzburger Modell“ letztlich hin. Ihr Wunsch für die Veranstaltung ist, dass die beiden Berufsgruppen einander Wertschätzung entgegenbringen und kein Zweifel besteht, dass Massage wie Physiotherapie ihre Berechtigung haben und beide zielführend zu verordnen sind.

Danach ist das Wort bei Frau Dr. Ingrid Wilbacher (Hauptverband der Sozialversicherungsträger), die als Expertin für Evidence Based Medicine-Recherchen die „Makrosicht“ darlegt, in der sie und ihre Kolleg*innen der Frage nach der Evidenz nachgegangen sind, dem wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit von Massage. Nach einer Beschreibung der Vorgehensweise berichtet sie von den Ergebnissen: Positive Nachweise für eine kurzfristige Wirkung von Massage gibt es beispielsweise bei chronischen Rückenschmerzen. Für einen langfristigen Therapieerfolg jedoch empfehlen die meisten Arbeiten Massage in Kombination mit Bewegung. Generell: Viele Studienergebnisse sind widersprüchlich, dennoch wird Massage wegen des höheren Nutzens für Patient*innen in Kombination mit Bewegungstherapie empfohlen.

Es ist nicht richtig, dass kaum Studien zu Massage existieren, vielmehr gibt es viele Studien, die allerdings großteils von geringer Qualität sind. Evidenz bedeutet nicht die Reduktion auf randomisierte kontrollierte, doppelt verblindete Studien, aber es bedeutet „best level of evidence“, d.h. man schaut sich an, in welcher Güte Studien vorliegen. Existieren randomisierte Studien, werden Fallstudien nicht mehr einbezogen. Es gibt eine Pyramide der Evidenz und die höchste Stufe bilden bereits vorhandene Zusammenfassungen, wenn möglich von randomisierten Studien. Die Verblindung ist in vielen Bereichen nicht möglich – positiv aber, wenn sie möglich ist. Entscheidend sind die Vergleichsgruppen, d.h. wogegen man die jeweiligen Interventionen vergleicht, wenn möglich in einer randomisierten Form, damit alle anderen Einflussfaktoren möglichst gleich verteilt sind. Zellstudien, wie aus dem Publikum angemerkt, wurden in die Studienauswertung nicht inkludiert, da es um Studien mit Patient*innennutzen geht. Eine physiologische Beweisführung ist sinnvoll, aber nur ein Voraspekt.

Das Evidenzniveau ist, wie auch andere Diskutant*innen anführen, niedrig. Dennoch wäre es nach all den Leitlinienempfehlungen und Ergebnissen aus systematischen Übersichtsarbeiten und teilweise auch Einzelstudien unzulässig, Massage allein anzuwenden, weil eine recht durchgängige Empfehlung dahintersteht, Massage in Kombination mit Bewegung anzuwenden.

In den Studien, die in Frau Dr. Wilbachers Arbeit eingeflossen sind, geht es nicht um Massage versus Bewegungstherapie, sondern um die Frage, ob Massage allein oder in Kombination mit Bewegung zu bevorzugen ist. Das wichtigste Ziel ist, den Weg mit dem größten Patient*innennutzen zu suchen, und Evidenzbasierung ist der Weg zur Objektivierung von einzelnen Erfahrungen.

Herr Univ-Prof. Dr. Gerold Ebenbichler (Universitätsklinik für physikalische Medizin, Rehabilitation & Arbeitsmedizin, MUW, AKH Wien, Leiter der Ambulanz für Wirbelsäulenstörungen und Dekonditionierungssyndrome, AKH Wien) führt aus, welche Fakten und Befunde er als Facharzt benötigt, um eine Indikation für Massage und/oder Bewegungstherapie zu stellen. Neben bildgebenden und anderen objektiven diagnostischen Verfahren werden eine umfassende Inspektion, Palpation und Untersuchung des Bewegungsapparats durchgeführt. Dazu gehört die Feststellung funktioneller Beeinträchtigungen der Patient*innen hinsichtlich eingeschränkter Gelenksbeweglichkeit, muskulärer Veränderungen, neuromuskulärer Veränderungen wie Muskelschwäche, Koordinationsstörungen, Verspannungen der Muskulatur, eventuell auch von Verquellungen des Unterhautgewebes und anderes, wie Insertionstendinosen, Triggerpunkte etc.

Nackenschmerz oder Schulterschmerz ist keine Diagnose, sondern ein Symptom, das den*die Patient*in stört. Dahinter steht ein Syndrom, das aufzuschlüsseln ist. Etwaige bösartige Erkrankungen sind ebenso auszuschließen wie Schmerzprojektionen eines inneren Organs, ein Tumor oder Verletzungen. Auf Basis dieser und weiterer Befunde, auch unter Einschätzung der Persönlichkeit des*der Patient*in, entwickelt er ein Konzept und gibt klare Zielvorstellungen für die erforderliche Massage: Nicht in erster Linie den Schmerz zu behandeln, sondern einen hypertonen Muskel zu reduzieren, Unterhautgewebe oder Faszien zu lockern oder den Blutfluss zu vermehren… Massage bildet eine wesentliche physikalisch-medizinische Intervention.

Dr. Ebenbichler ist Verfechter der evidenzbasierten Medizin, und für Massage, wenngleich sich die Evidenzlage nicht mit der von Medikamentenstudien vergleichen lässt, gibt es einige Indikationen mit eindeutig positiven Wirkungsnachweisen. In der Praxis evidenzbasierter Medizin ist der Wirksamkeitsnachweis aber immer nur ein, wenngleich wichtiger Parameter. Andere Parameter sind auch Vorerfahrungen des*der Patient*in sowie die Erfahrung des*der Therapeut*in.

Es sollte nicht vergessen werden, dass mit Bewegungstherapie und Massage starke interpersonelle Beziehungen hergestellt werden und der sogenannte Placebo-Effekt (aber auch der Nocebo-Effekt) eine wesentliche Rolle spielt. Die dahinterstehenden Mechanismen wirken auf Wohlbefinden, Entspannung und Muskulatur einfach dadurch, dass eine Kontaktperson da ist. Zuwendungseffekte und Erwartungen von Patient*innen machen in wesentlichen Bereichen den Therapieeffekt aus und zunehmend stellt sich heraus, dass Kontextfaktoren eine wesentliche Rolle spielen und quasi neurohumorale Mechanismen ablaufen, die zu einer Verbesserung des Schmerzsyndroms beitragen können.

Herr Dr. Ebenbichler hat vor Jahren eine große, randomisierte und kontrollierte Studie durchgeführt, in der die Nachbehandlung nach Bandscheibenoperationen untersucht wurde. Verglichen wurde die physiotherapiebegleitete Nachbehandlung mit einer Massage-Intervention und keiner Intervention (diese Patient*innen bekamen einzig ein Booklet). Nach drei Monaten und eineinhalb Jahren zeigte sich kein Unterschied zwischen der Massage- und der Physiotherapiegruppe, sehr wohl aber ein Unterschied beider Gruppen zur Kontrollgruppe (ohne therapeutische Interventionen).

Herr Dr. Ebenbichler ist verwundert über die Vereinbarung mit der Salzburger Ärztekammer, weil die unterschiedlichen Phasen außer Acht gelassen werden, in denen sich ein*e Schmerzpatient*in befindet. Seines Wissens gibt es heute in fast allen Leitlinien die Empfehlung in den akuten Phasen keine Bewegungstherapie durchzuführen, den*die Patient*in aber sehr wohl zu Bewegung zu motivieren. Und wenn in dieser Situation von Physiotherapie gesprochen wird, geht es wahrscheinlich um manualmedizinische Techniken, um beispielsweise eine eingeschränkte Beweglichkeit oder muskuläre Verspannungen mittels Mobilisations- und Manipulationstechniken zu verbessern. Das aber ist nicht die Bewegungstherapie, um die es in dieser Diskussion geht.

In dem Moment, wo ein*e Ärzt*in Physiotherapie auf die Verordnung schreibt und keine Ziele vorgibt, ist der*die Physiotherapeut*in voll handlungsfähig in allen Bereichen, die Verantwortung allerdings liegt in der Hand des*der Ärzt*in. Passiert etwas, weil etwas übersehen oder eine nicht optimale Technik eingesetzt wurde, dann ist der*die Ärzt*in haftbar, denn Verordnungen sind Anordnungen und keine Überweisungen. Viele Salzburger Allgemeinmediziner*innen haben manualmedizinische, teilweise auch osteopathische Ausbildungen, weshalb es verwunderlich ist, dass die SGKK mit dem neuen Modell eine Vereinfachung für sie erreichen möchte, die einer Überweisung gleichkommt.

Massage und Aktivtherapie sind wichtige Interventionen in der Behandlung von Patient*innen mit Beschwerden im Bewegungsapparat. Die Indikationen und Kontraindikationen zu stellen und zu setzen allerdings obliegt dem*der Ärzt*in. Es handelt sich um eine ärztliche Anordnung und der*die Ärzt*in ist letztverantwortlich für die Therapie und den Genesungsprozess.

Es ist ein großes Problem, wenn man zwingend Massage- und Bewegungstherapie nur gemeinsam verordnen kann. Beide Methoden gehören zum ärztlichen Repertoire und sollen entkoppelt verordnet werden können. Sein Wunsch ist, dass sich in Zukunft alle Beteiligten besser darüber verständigen, unter welchen Umständen eine Massage allein Sinn macht.

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