Hartvigsen, Jan et al.: What low back pain is and why we need to pay attention

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Arbeitsunfähigkeit

Behinderungen aufgrund von Rückenschmerzen sind weltweit am häufigsten in den arbeitsfähigen Altersgruppen, was besonders in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zutrifft, in denen informelle Beschäftigung weit verbreitet und oft vorherrschend ist und Möglichkeiten zur Arbeitsplatzveränderung fast vollständig fehlen.1Informelle Beschäftigung bezeichnet unterschiedliche Formen der (Selbst-) Beschäftigung oder des Wirtschaftens, die von der gesetzlich geregelten Normalform und den in der jeweiligen Wirtschaftsordnung vorherrschenden Standards abweichen. Dazu gehören beispielswiese Schwarzarbeit, Subsistenzarbeiten (Bedarfswirtschaft, deren Produktionsziel weitestgehend die Selbstversorgung ist; auch Erträge aus Jagen und Sammeln) und prekäre Arbeit (Arbeitsplätze mit geringer Einkommenssicherheit z.B. in Hinblick auf Arbeitsplatzsicherheit, niedrigem Lohn der für eine Existenzsicherung nicht ausreicht, mangelnder Kündigungsschutz, fehlende oder geringe sozialrechtliche Absicherung, fehlende Interessensvertretung). Darüber hinaus gibt es in diesen Ländern auch keine oder nur unzulängliche sozialpolitischen Regelungen, wie z.B. eine Schwerarbeiterregelung.

In den ärmeren Regionen der Welt dürfte eine Behinderung durch Schmerzen im unteren Rückenbedarf und dadurch Aktivitätseinschränkungen wesentlich zum Kreislauf der Armut beitragen.2So hat beispielsweise eine Umfrage unter 500 Landwirten im ländlichen Nigeria ergeben, dass Rückenschmerzen für mehr als 50 Prozent der Reduzierungen der landwirtschaftlichen Arbeit verantwortlich sind. In den einkommensstarken Ländern hingegen sind es weniger Unterschiede in den beruflichen Belastungen oder individuellen Faktoren sondern vor allem die Unterschiede in den Sozialversicherungssystemen, die für die Zahl und die Dauer der Arbeitsausfälle verantwortlich sind.

In Europa sind untere Rückenschmerzen die häufigste Ursache für einen ärztlich verordneten Krankenstand oder Vorruhestand3Allerdings zeigen sich in Europa doch auch große Unterschiede. In Norwegen und Schweden zum Beispiel waren im Jahr 2000 die Krankenstandquoten bei Menschen mit Rückenschmerzen ähnlich (5,1% bzw. 6,4%), die Zahl der längerfristigen Krankenstände aber doch sehr unterschiedlich (22% bzw. 15%)., und in den USA sind Rückenschmerzen für mehr verlorene Arbeitstage verantwortlich als jede andere berufsbedingte Beschwerde des Bewegungsapparats (musculoskeletal condition).

Soziale Identität und Ungleichheit

Die Auswirkungen von Rückenschmerzen auf die soziale Identität und auf Ungleichheit sind weltweit erheblich. Ethnographische Interviews von Dorfbewohnern in Botswana zeigen, dass Rückenschmerzen und andere Beschwerden des Bewegungsapparats sowohl wirtschaftliche und existenzielle Folgen haben, als auch zum Verlust von Unabhängigkeit und sozialer Identität führen aufgrund der Unfähigkeit, traditionelle und erwartete soziale Rollen in einer Gesellschaft mit harten Lebensbedingungen zu erfüllen.4Hondras, M, Hartvigsen, J, Myburgh, C, and Johannessen, H: Everyday burden of musculoskeletal conditions among villagers in rural Botswana: a focused ethnography. J Rehabil Med. 2016; 48: 449-455.

Eine Metastudie von Froud et al. (42 Studien aus Ländern mit hohem Einkommen)5Froud, R, Patterson, S, Eldridge, S et al.: A systematic review and meta-synthesis of the impact of low back pain on people’s lives. BMC Musculoskelet Disord. 2014; 15: 50. zeigt auf, dass Menschen, die an unteren Rückenschmerzen leiden, darum kämpfen, ihre sozialen Erwartungen und Verpflichtungen zu erfüllen6Mit der Gefahr, dass damit die Glaubwürdigkeit ihres Leidens und ihre Behinderten-/Krankenansprüche gefährdet sind.. Obwohl sie versuchen, ein prämorbides Gesundheitsniveau zu erreichen bzw. zu bewahren, finden viele mit der Zeit, dass dieses Ziel unrealistisch ist und leben fortan mit reduzierten Erwartungen.

Wesentliche Themen, die sich in den Studien finden7MacNeela, P, Doyle, C, O’Gorman, D, Ruane, N, and McGuire, BE: Experiences of chronic low back pain: a meta-ethnography of qualitative research. Health Psychol Rev. 2015; 9: 63-8., sind Sorge und Angst vor den sozialen Folgen, Hoffnungslosigkeit, familiäre Belastung, sozialer Rückzug, Verlust des Arbeitsplatzes und Geldmangel, Enttäuschung über Begegnungen im Gesundheitswesen (insbesondere mit AllgemeinmedizinerInnen), Umgang mit dem Schmerz und Selbstmanagementstrategien.

Weltweit tragen Rückenschmerzen zu sozialer Ungleichheit bei. In Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen können Armut und Ungleichheit zunehmen, da die Teilnahme an der Erwerbstätigkeit beeinträchtigt wird. Darüber hinaus gibt es oft keine formalen Rückkehrsysteme („return-to-work systems“), was den Lebensunterhalt der Familie und die Gemeinschaft noch stärker belastet. Aber auch in Ländern mit hohem Einkommen zeigen sich deutliche Einkommenseinbußen, wie eine australische Studie aufzeigt.8Schofield, D, Kelly, S, Shrestha, R, Callander, E, Passey, M, und Percival, R: The impact of back problems on retirement wealth. Pain. 2012; 153: 203-210: Personen, die aufgrund von unteren Rückenschmerzen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden, weisen im Alter von 65 Jahren deutlich weniger Wohlstand auf.

Kosten

Es liegen keine relevanten Studien aus Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen bezüglich der Kosten im Zusammenhang mit Rückenschmerzen vor. In der Regel werden nur die direkten medizinischen Kosten und die indirekten Kosten durch Arbeitsausfall und Produktivitätsverlust einbezogen. Nur wenige Studien allerdings berücksichtigen auch nicht-medizinische Kosten wie z.B. den Transport zu Terminen, Besuche bei Komplementär- und Alternativtherapeuten und andere Hilfen, die nicht vom Gesundheitssystem erfasst werden. Das bedeutet, so die Autor*innen, dass die Gesamtkosten von Rückenschmerzen unterschätzt werden, und die wirtschaftlichen Auswirkungen vergleichbar sind mit anderen weit verbreiteten, kostenintensiven Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, psychische Beschwerden und Autoimmunerkrankungen.9Einige der beobachteten Schwankungen der Kosten für Rückenschmerzen im Laufe der Zeit könnten durch Änderungen der Behindertengesetzgebung und der Gesundheitspraxis erklärt werden.

Schätzungen der direkten medizinischen Kosten stammen aus Ländern mit hohem Einkommen, wobei die USA die höchsten Kosten aufweisen, die auf einen medizinisch intensiveren Ansatz und höhere Operationsraten im Vergleich zu anderen Ländern mit hohem Einkommen zurückzuführen sind. In Großbritannien waren im Jahr 2006 die meisten (jeder siebte) Arztbesuch wegen Beschwerden im Bewegungsapparat auf untere Rückenbeschwerden zurückzuführen.

Menschen mit Beschwerden im unteren Rücken nutzen gerne auch komplementäre und alternative medizinische Ansätze. 44% der US-amerikanischen Bevölkerung nutzten 1997 mindestens eine CAM-Methode, der häufigste Grund waren untere Rückenschmerzen.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Informelle Beschäftigung bezeichnet unterschiedliche Formen der (Selbst-) Beschäftigung oder des Wirtschaftens, die von der gesetzlich geregelten Normalform und den in der jeweiligen Wirtschaftsordnung vorherrschenden Standards abweichen. Dazu gehören beispielswiese Schwarzarbeit, Subsistenzarbeiten (Bedarfswirtschaft, deren Produktionsziel weitestgehend die Selbstversorgung ist; auch Erträge aus Jagen und Sammeln) und prekäre Arbeit (Arbeitsplätze mit geringer Einkommenssicherheit z.B. in Hinblick auf Arbeitsplatzsicherheit, niedrigem Lohn der für eine Existenzsicherung nicht ausreicht, mangelnder Kündigungsschutz, fehlende oder geringe sozialrechtliche Absicherung, fehlende Interessensvertretung).
  • 2
    So hat beispielsweise eine Umfrage unter 500 Landwirten im ländlichen Nigeria ergeben, dass Rückenschmerzen für mehr als 50 Prozent der Reduzierungen der landwirtschaftlichen Arbeit verantwortlich sind.
  • 3
    Allerdings zeigen sich in Europa doch auch große Unterschiede. In Norwegen und Schweden zum Beispiel waren im Jahr 2000 die Krankenstandquoten bei Menschen mit Rückenschmerzen ähnlich (5,1% bzw. 6,4%), die Zahl der längerfristigen Krankenstände aber doch sehr unterschiedlich (22% bzw. 15%).
  • 4
    Hondras, M, Hartvigsen, J, Myburgh, C, and Johannessen, H: Everyday burden of musculoskeletal conditions among villagers in rural Botswana: a focused ethnography. J Rehabil Med. 2016; 48: 449-455.
  • 5
    Froud, R, Patterson, S, Eldridge, S et al.: A systematic review and meta-synthesis of the impact of low back pain on people’s lives. BMC Musculoskelet Disord. 2014; 15: 50.
  • 6
    Mit der Gefahr, dass damit die Glaubwürdigkeit ihres Leidens und ihre Behinderten-/Krankenansprüche gefährdet sind.
  • 7
    MacNeela, P, Doyle, C, O’Gorman, D, Ruane, N, and McGuire, BE: Experiences of chronic low back pain: a meta-ethnography of qualitative research. Health Psychol Rev. 2015; 9: 63-8.
  • 8
    Schofield, D, Kelly, S, Shrestha, R, Callander, E, Passey, M, und Percival, R: The impact of back problems on retirement wealth. Pain. 2012; 153: 203-210: Personen, die aufgrund von unteren Rückenschmerzen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden, weisen im Alter von 65 Jahren deutlich weniger Wohlstand auf.
  • 9
    Einige der beobachteten Schwankungen der Kosten für Rückenschmerzen im Laufe der Zeit könnten durch Änderungen der Behindertengesetzgebung und der Gesundheitspraxis erklärt werden.

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