Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur

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Vorbehalte gegen die neue Medizin

So revolutionär das neue medizinische Verständnis auch war, wurde es von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung doch nicht geteilt. Und auch innerhalb der damaligen Elite waren nicht alle von der neuen Medizin überzeugt. Ein wahrscheinlich mindestens ebenso großer Teil von ihr lehnte sie ab.

Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass der kranke Organismus dem Beobachter zwar Zeichen gibt, dass sich ein als normal aufgefasster Zustand in einen unnormalen, als krank angesehenen Zustand gewandelt hat. Die Ursachen dieses Wandels und ihre Abläufe, die in seinem Inneren unsichtbar stattfinden, teilt er ihm aber nicht mit. Alle Körpervorgänge müssen von außen erkannt werden, durch Beobachtung der Veränderungen an Haut, Zunge, Mundgeruch, Puls u.ä.m. Daraus zieht der Arzt seinen Schluss, verknüpft das Wissen um das Sichtbare mit dem Wissen um das Unsichtbare, um Kranksein und Gesundsein zu verstehen. Ein Arzt bewegt sich damit auf dem Boden einer Theorie von Abläufen im Körper. Sie ist zentraler Bestandteil der Medizin, denn sie ermöglicht es, frühzeitig Vorgänge im Körper als „krankhaft“ zu erkennen – schon bevor sie zu einer Beeinträchtigung führen.1Eine frühe Darstellung dieses Verständnisses stammt von Sima Qian aus der Wende vom zweiten zum ersten Jahrhundert vor Christi, der eine Biographie über Bian Que verfasste. Eines Tages wurde dieser zur Audienz beim Herrscher von Qin vorgelassen und machte diesen darauf aufmerksam, dass er krank sei und einer Behandlung bedürfe. Der Herrscher von Qin antwortet, dass er nicht krank sei. Die weitere Geschichte endet mit dem Tod des Herrschers und einer Erklärung von Bian Que über den dem Laien verborgenen Krankheitsverlauf.


Das gesellschaftliche Vorbild

Der Herrscher von Qin, der sich nach dem Sieg über seine Rivalen „Erster Kaiser von Qin“ (Qin Shi Huang Di; 221 bis 204 v.Chr.) nannte, schuf innerhalb weniger Jahre aus den früher kulturell und wirtschaftlich weitgehend eigenständigen Teilstaaten ein integriertes Ganzes. Er ließ den Nord-Süd-Kanal bauen, der die bisher getrennten Kulturzentren verband, und verordnete eine gemeinsame Schrift, eine gemeinsame Spurbreite, gemeinsame Gewichte und Maße und vieles andere mehr. Damit schuf er die Grundlage für den dauernden Austausch von Gütern und Menschen in seinem Reich und einen aus mehreren Einzelteilen zusammen gesetzten Organismus, in dem jeder Teil zum Wohl des Ganzen beiträgt. Alle Bereiche sind miteinander verknüpft. Und wenn der Verkehr auf den Straßen reibungslos läuft und Waren ausgetauscht werden können, dann ist der staatliche Organismus gesund.

Dieser neue staatliche Organismus bot, so Paul Unschuld, die Grundlage für die neue Sicht auf den menschlichen Organismus. Die verschiedenen Ansichten zu den Funktionen der Organe entsprangen nicht der Beobachtung des Körpers, sondern hatten ihren Ursprung in der Sicht auf den neuen Staat. Der Organismus des Menschen, so postulierten die Schöpfer der neuen Medizin, beruht auf denselben Strukturen wie der Organismus des geeinten Staates. Das Wort, das sie für „heilen“ verwendeten, war daher folgerichtig dasselbe Wort, das auch für „regieren“ und „ordnen“ benutzt wurde. Und „Krankheit“ im menschlichen Organismus wurde dem „Chaos“, der sozialen Unruhe im staatlichen Organismus gleichgesetzt.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Eine frühe Darstellung dieses Verständnisses stammt von Sima Qian aus der Wende vom zweiten zum ersten Jahrhundert vor Christi, der eine Biographie über Bian Que verfasste. Eines Tages wurde dieser zur Audienz beim Herrscher von Qin vorgelassen und machte diesen darauf aufmerksam, dass er krank sei und einer Behandlung bedürfe. Der Herrscher von Qin antwortet, dass er nicht krank sei. Die weitere Geschichte endet mit dem Tod des Herrschers und einer Erklärung von Bian Que über den dem Laien verborgenen Krankheitsverlauf.

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