Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur

Bücher

Die Abwendung von der traditionellen Medizin

Der vermutlich erste europäische medizinische Text, der in chinesischer Sprache veröffentlicht wurde, war eine kleine anatomische Abhandlung des Jesuiten Johann Schreck (1576 bis 1630).1Veröffentlicht wurde die Schrift, die durch die anatomischen Studien von Vesalius (Andreas von Wessel) beeinflusst war, erst nach Johann Schrecks Tod von Bi Gongchen (Taixi renshen shuogai, Erläuterung des menschlichen Körpers aus dem fernen Westen) Mitte der 1850er Jahre schrieb der englische Arzt Benjamin Hobson ein mehrbändiges Werk zur Einführung in die westliche Wissenschaft und Medizin, das er mit Hilfe von Guan Maocai ins Chinesische übersetzte (Xiyi luelun, Übersicht über die westliche Medizin). Sowohl die technischen Errungenschaften wie auch eine Medizin, die sich dieser Technik bediente, war in China unbekannt und beeindruckend.2Hobson bot detaillierte Einblicke ins Körperinnere, wie sie in China bislang unbekannt waren, legte Operationen dar und stellte auch die dazugehörigen chirurgischen Instrumente dar. Besonders überzeugend waren die Erfolge der westlichen Medizin im Kampf gegen die große Pest im Jahre 1910 in der Mandschurei. Hier war es der Bakteriologe Wu Lien-Teh, der die Epidemie wirksam in die Schranken wies.

Parallel zu der damit beginnenden Wiedergabe von Texten westlicher Autoren in chinesischer Sprache erschienen zunehmend auch Schriften chinesischer Autoren, die es sich zum Ziel gemacht hatten, westliche und chinesische Medizin zu vereinen. Tang Zonghai (1847 bis 1897) verfasste als einer der ersten klassisch gebildeten Ärzte ein Werk der Zhongxi-(chinesisch-westlichen-)Medizinliteratur. Sein Zhongxi huitong yijing jingyi (Die wichtigsten Inhalte der medizinischen Klassiker im Zusammenfluss [der Kenntnisse] Chinas und des Westens) von 1884 forderte „das Alte zu schätzen, dem Alten aber nicht blind zu vertrauen“ und sich zugleich der westlichen Medizin nicht zu verschließen.

Für die Elite Chinas deutete alles darauf hin, dass nur westliche Technik und westliche Medizin den „kranken Mann China“ wieder zu Kräften bringen können. Zweitausend Jahre chinesischer Kulturtradition, so sah es eine immer größere Zahl chinesischer Reformer, fanden ihr Ende. Beschleunigt durch die Demütigung Chinas von den imperialen Mächten nach dem 1. Weltkrieg fiel deshalb die Entscheidung, westliche Wissenschaft und Technik kompromisslos anzunehmen.3Diese Haltung wurde auch durch das Beispiel Japans bestärkt, das sich mit den Meji-Reformen des Jahres 1868 erfolgreich der westlichen Zivilisation geöffnet hatte. Hohn und Spott ergossen die Reformer über die eigene heilkundliche Tradition. Die chinesische Medizin wurde gleichsam zum Symbol der veralterten Denkweise der Väter und Vorfahren.4Im Unterschied zum Fortschrittsverständnis der westlichen Welt ist die Geschichte der chinesischen Heilkunde nicht so sehr die Abfolge immer neuer Erklärungsmodelle (einhergehend mit einem Wandel der praktischen Anwendungen), als vielmehr – zumindest bis zu diesem Zeitpunkt – eine stete Bereicherung bereits vorhandener Erkenntnisse. Dem (westlichen) Konzept des Fortschritts steht in China eine Realität der Wissenserweiterung gegenüber, die alte Ansichten nicht als veraltert ansieht, sondern neues Wissen stets dem älteren nur hinzufügt. Und so kam es Ende der 1920er-Jahre sogar zu einer Gesetzesinitiative, die traditionelle Medizin ganz zu verbieten. Sie scheiterte aber am Widerstand der Bevölkerung, der chaotischen innenpolitischen Lage während des Bürgerkriegs und an der japanischen Invasion.


Rückbesinnung auf die alten Lehren

Nach dem Sieg der kommunistischen Volksbefreiungsarmee und der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 berief man sich auf das Vermächtnis des Volkes, auf das Erbe der traditionellen Medizin, um die „Vorteile beider Systeme“ zu nutzen.5Seit dem Ende der 70er-Jahre gilt eine Politik der „Drei Wege“, in dem sich westliche Medizin und traditionelle Medizin in ihrem eigenen Rahmen fortentwickeln sollen. Den dritten Weg beschreiten vor allem Praktiker der chinesischen Medizin, deren Ziel es ist, moderne diagnostische und therapeutische Methoden in ihre Arbeit einzubeziehen und mit traditionellen Behandlungen abzurunden oder zu verbessern. Zugleich aber wurden die alten Lehren von innen her ausgehöhlt, distanziert als Versuch betrachtet, das Metaphysische und Religiöse zu verlassen, um sich den Naturwissenschaften zu öffnen. Von 1950 bis 1975, so Paul Unschuld, haben Kommissionen das alte Ideengebäude „entkernt und völlig neu von innen aufgebaut“6Aus den alten Traditionen wurden vor allem diejenigen Anteile herausgelöscht, die an die religiösen und metaphysischen Vorstellungen der Vergangenheit erinnern und aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht absurd erscheinen. Versatzstücke aus der Vergangenheit wurden sorgsam zusammengefügt, so dass sie nicht mehr mit der Wirklichkeit der neuen Medizin des Westens kollidieren. Dabei entspricht der Neuaufbau in seiner inneren Logik dem modernen wissenschaftlichen Denken. Das alte, so typisch chinesische Sowohl-als-auch wurde durch das Entweder-Oder westlicher Denkart ersetzt. Zigtausende Bücher verschiedenster Denkstile und hunderttausende Buchkapitel mit heterogenen Inhalten wurden in „dünne Übersichten“ kondensiert.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Veröffentlicht wurde die Schrift, die durch die anatomischen Studien von Vesalius (Andreas von Wessel) beeinflusst war, erst nach Johann Schrecks Tod von Bi Gongchen (Taixi renshen shuogai, Erläuterung des menschlichen Körpers aus dem fernen Westen)
  • 2
    Hobson bot detaillierte Einblicke ins Körperinnere, wie sie in China bislang unbekannt waren, legte Operationen dar und stellte auch die dazugehörigen chirurgischen Instrumente dar.
  • 3
    Diese Haltung wurde auch durch das Beispiel Japans bestärkt, das sich mit den Meji-Reformen des Jahres 1868 erfolgreich der westlichen Zivilisation geöffnet hatte.
  • 4
    Im Unterschied zum Fortschrittsverständnis der westlichen Welt ist die Geschichte der chinesischen Heilkunde nicht so sehr die Abfolge immer neuer Erklärungsmodelle (einhergehend mit einem Wandel der praktischen Anwendungen), als vielmehr – zumindest bis zu diesem Zeitpunkt – eine stete Bereicherung bereits vorhandener Erkenntnisse. Dem (westlichen) Konzept des Fortschritts steht in China eine Realität der Wissenserweiterung gegenüber, die alte Ansichten nicht als veraltert ansieht, sondern neues Wissen stets dem älteren nur hinzufügt.
  • 5
    Seit dem Ende der 70er-Jahre gilt eine Politik der „Drei Wege“, in dem sich westliche Medizin und traditionelle Medizin in ihrem eigenen Rahmen fortentwickeln sollen. Den dritten Weg beschreiten vor allem Praktiker der chinesischen Medizin, deren Ziel es ist, moderne diagnostische und therapeutische Methoden in ihre Arbeit einzubeziehen und mit traditionellen Behandlungen abzurunden oder zu verbessern.
  • 6
    Aus den alten Traditionen wurden vor allem diejenigen Anteile herausgelöscht, die an die religiösen und metaphysischen Vorstellungen der Vergangenheit erinnern und aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht absurd erscheinen.

Pages: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11