Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur

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Die Bedeutung von Dämonen, Geistern und Kleinstlebewesen im Wandel der Medizin

Dämonen, Geister und Kleinstlebewesen waren in der chinesischen Heilkunde über lange Zeit hinweg wesentliche Krankheitsursachen. In der neuen Medizin fand dieses alte Wissen keinen Platz mehr.1Die Theorie von den Kleinstlebewesen als Krankheitsursache überlebte aber in der auch weiterhin, vor allem im Umfeld des Daoismus praktizierten Kräuterheilkunde. Dieser Paradigmenwechsel von der Bedrohung durch einen grundsätzlich bösen Feind2Die dämonologisch begründete Heilkunde geht grundsätzlich davon aus, dass neben den lebenden Menschen eine Vielzahl von in der Regel übelwollenden Dämonen existieren, die zwar ehemals menschliche Seelen waren, aber – anders als die Ahnen – lebenden Menschen nicht mehr verwandtschaftlich zugeordnet werden können. Der Mensch steht unter einer ständigen Bedrohung durch diese Dämonen und muss sich schützen, um nicht Unheil zu erleiden., dem man nur durch Abschreckung, Vertreibung und Tötung beikommt, hin zur neuen Medizin, deren Krankheitsursachen in bioklimatischen Einflüssen, ungünstigen Ernährungsweisen und übermäßigen Emotionen liegt, war vom Zeitgeist geprägt. Die „neuen Krankheitserreger“ fügten sich der Moral. Jeder Mensch, der sein Verhalten sittlich ordnet, wozu auch die Anpassung an die Gesetze der Natur zählt, kann davon ausgehen, kein Opfer dieser Krankheitsursachen zu werden.3Dämonen, Geister und Kleinstlebewesen handeln unmoralisch, halten sich nicht an Gesetze und schlagen zu, egal ob ihr Opfer sich gut oder schlecht benommen hat. Jeder kann ihr Opfer werden. Diese Beeinflussung des Schicksals durch das eigene Verhalten ließ es (wieder) lohnend erscheinen, moralisch und sittlich zu leben. Wenn Sitten und Moral den Menschen selbstverständlich sind, wenn jeder Mensch sich nach Rang und Stand verhält, dann, so die Philosophie des Antiken China, herrschen Frieden und Harmonie in Staat und Organismus.

Maßhalten war ein zentraler Aspekt der neuen Geisteshaltung: Maßhalten beim Essen und Trinken und Maßhalten im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Auch Maßhalten bei den Emotionen wurde für wichtig erachtet, denn jede Gemütsäußerung ist mit einem Organ verbunden und kann es schädigen. Wird eines der Organe durch übermäßige emotionale Beanspruchung zu sehr geschwächt, dann entsteht Leere in ihm, in die ein Krankheitsfaktor von außen eindringen kann. Aber selbst wenn man sich einmal falsch verhalten hat, gibt es Möglichkeiten zur „Rückkehr in den Frühling“. Diese Möglichkeit bestand aber nicht bei irreversiblen Schäden durch Kleinstlebewesen, weshalb diese Theorie nicht in die Sichtweise der neuen Medizin gepasst hat.


Arzneikunde und neue Medizin

In den neuen Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen zur Erklärung von physiologischen und pathologischen Vorgängen im Körper fand die Arzneimittelkunde trotz ihres hohen Standards (eine große Zahl verwendeter Substanzen, viele technische Aufbereitungen unterschiedlicher Arzneien und eine große Bandbreite von Indikationen) kaum Beachtung.4Die Substanzen der Arzneimitteltherapie wurden – in einer deutlichen Parallele zu den daoistischen Sozialvorstellungen – in drei Gruppen unterteilt. Die oberste und vornehmste Gruppe der Arzneien („Herrscher“) diente der Langlebigkeit und nährte die Lebensfunktionen (ähnlich wie es als Aufgabe des Herrschers gesehen wurde, das staatliche Gesamtsystem zu harmonisieren, selbst aber nicht aktiv in die Geschäfte der Staatsführung einzugreifen). Die unterste Gruppe („Gehilfen“) wurde mit den Bütteln des Staates verglichen, die die Todesstrafe ausführten. Sie galten als giftig und schienen für die Therapie akuter Erkrankungen geeignet. Die mittlere Gruppe („Minister“) enthielt Substanzen beider Arten. Für Paul Unschuld liegt die Ursache dafür in der schon oben ausgeführten grundlegenden Ausrichtung der neuen Staatsphilosophie. Die Nadelbehandlung (Akupunktur) war – wie das ideale politische Handeln – vor allem für die Vorbeugung von Krisen bestimmt, weniger für bereits ausgebrochene Krankheiten.5Während die Nadelbehandlung bei Erkrankungen im Frühstadium eingesetzt wurde, um eine Umkehrung des pathologischen Prozesses zu bewirken, wurden manifeste Erkrankungen durch Diätetik und Arzneikunde behandelt. Der erste Schritt einer Behandlung, so Sun Simiao (581 bis 682?) in seinem Buch Qianjin yifang, ist die Behandlung mit Lebensmitteln. Erst wenn diese keinen Erfolg haben, werden Arzneidrogen eingesetzt: „Der Weg, eine Krankheit zu heilen, führt allein über Arzneidrogen“ (Paul U. Unschuld 1995, S. 22). Die Akupunktur wird hier überhaupt nicht in Erwägung gezogen.

Etwa 200 nach Christi versuchte Zhang Zhongjing (auch Zhang Ji genannt, ca. 150 bis 219) erstmals eine Brücke zwischen der Arzneikunde und der neuen Medizin zu schlagen. Er wandte die neuen Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen auch auf die Wirkungen der Arzneisubstanzen im Körper an.6Das Shanghan zahing lun (Über verschiedene durch Kälte verursachte Erkrankungen) von Zhang Zhong Jing wurde wahrscheinlich bereits im 3. Jahrhundert durch Wang Shuhe, spätestens jedoch im 11. Jahrhundert in zwei inhaltlich ähnliche, jedoch strukturell verschiedene Werke geteilt: Zum einen das Shanghan lun (Über Kälteschaden), das 133 Rezepte allein zur Behandlung kältebedingter Erkrankungen beschreibt und die Theorie von Yin und Yang in die Betrachtung dieser Erkrankungen einführt, und zum anderen das Jingui yaolije fang lun (Über die essentliellen Rezepte aus der goldenen Truhe), das 262 Vorschriften gegen vielerlei andere Erkrankungen zusammenfasst. Sein Versuch blieb jedoch bis ins 11. Jahrhundert ein Einzelfall, und die medizinischen und pharmazeutischen Traditionen der chinesischen Heilkunde blieben über lange Zeit unverbunden.


Volksmedizin

So wie in Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein nur ein kleiner Teil der Bevölkerung einen manchmal durchaus fragwürdigen Nutzen aus dem Können der an Universitäten ausgebildeten Ärzte ziehen konnten, waren auch in China diejenigen Ärzte, die Literatur lesen konnten und diese in ihrer heilkundlichen Praxis auch zur Anwendung brachten, in der Minderheit. Ihre Hilfeleistung kam nahezu ausschließlich der gebildeten Oberschicht zugute.

Welches Wissen die Heilkundigen der breiten Volksmassen beherrschten und auf welche Weise sie die Krankheiten ihrer Patienten behandelten, ist weithin unbekannt. Einen kleinen Einblick in das heilkundliche Alltagsleben Chinas gewährt das Chuanya (Aneinanderreihung des Außergewöhnlich Feinen) von Zhao Xuemin (ca. 1720 bis 1805). Das 1851 erstmals verlegte Werkt beruht auf Aufzeichnungen eines ansonsten unbekannten Wanderarztes namens Zong Boyun sowie weiterer Quellen der Volksmedizin.

Auffallend in diesem Text ist, dass die Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen fast vollständig fehlen. Für Paul Unschuld ist das allerdings nicht weiter überraschend, denn allein die gebildete Oberschicht der Kaiserzeit lebte in einem Umfeld, in dem die Vorstellungen von einer ewigen Gesetzmäßigkeit der Abläufe im Universum und im menschlichen Organismus überzeugend wirken konnten. Nur sie lebten in einem Bewusstsein, dass es dem einzelnen Menschen obliegt und vorhersehbaren Nutzen einbringt, sich in die gesellschaftliche Ordnung einzufügen. Denn nur wer sich in diese Ordnung einfügte, konnte sich seiner Laufbahn oder zumindest existentieller Sicherheit gewiss sein.

Die Lebenswelt vor allem der Landbevölkerung war hingegen vollkommen anders. Auch noch so großer körperlicher Einsatz konnte nicht verhindern, dass unvorhergesehene Katastrophen sie um die Früchte ihrer Arbeit oder gar ums Leben brachten. Oft waren die Katastrophen auch durch Eingriffe einer korrupten Verwaltung bedingt. Und so kennzeichnete die gesellschaftliche und „medizinische“ Heilkunde der unteren Volksschichten vor allem das Bemühen, sich mit den Mächtigen zu arrangieren.7Das Chuanya unterteilt die Arzneimittelwirkungen in solche, die im Körper aufsteigen, solche, die im Körper absinken, und solche, die einen Krankheitsverlauf oder einen organischen Zusammenhang (z.B. im Fall eines lockeren Zahns) unterbrechen. Zusätzlich beschreibt das Chuanya so genannte Banndrogen zur Bekämpfung von Krankheitserregern, die den Körper oder die Sinne von außen zu belästigen oder zu schädigen und gelegentlich auch in den Körper einzudringen vermögen.            
In den nachfolgenden Kapiteln werden weitere Heilverfahren beschrieben wie Bannschriftzeichen, Banntechniken, Totenerweckung, lebensrettende Maßnahmen (z.B: bei einem Schädelbruch), Nadelverfahren (Akupunktur), Brennverfahren (Moxibustion), Räucherverfahren, Pflaster, Dämpfe, Waschungen, Hitzekompressen und Atemtechniken. Das abschließende Kapitel mit dem Titel „Spielereien mit Arzneidrogen“ beschreibt „Verfahren, um vom Weingenuss nicht betrunken zu werden“, „Pillen, die Hunger und Durst unterdrücken“, „Verfahren, um Tintenschriftzeichen aus Dokumenten zu entfernen“, „Pillen, die Dämonen sichtbar werden lassen“ u.ä.m.       In der Einleitung zum Chuanya schreibt Zhao Xuemin noch erläuternd, dass er manche ihm unsicher oder problematisch erscheinende Praktiken des Zong Boyun nicht in sein Buch aufgenommen hat, wie z.B. das „Pflanzen“ von Krankheiten in gesunden Menschen, um aus der Behandlung derselben Gewinn zu ziehen.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Die Theorie von den Kleinstlebewesen als Krankheitsursache überlebte aber in der auch weiterhin, vor allem im Umfeld des Daoismus praktizierten Kräuterheilkunde.
  • 2
    Die dämonologisch begründete Heilkunde geht grundsätzlich davon aus, dass neben den lebenden Menschen eine Vielzahl von in der Regel übelwollenden Dämonen existieren, die zwar ehemals menschliche Seelen waren, aber – anders als die Ahnen – lebenden Menschen nicht mehr verwandtschaftlich zugeordnet werden können. Der Mensch steht unter einer ständigen Bedrohung durch diese Dämonen und muss sich schützen, um nicht Unheil zu erleiden.
  • 3
    Dämonen, Geister und Kleinstlebewesen handeln unmoralisch, halten sich nicht an Gesetze und schlagen zu, egal ob ihr Opfer sich gut oder schlecht benommen hat. Jeder kann ihr Opfer werden.
  • 4
    Die Substanzen der Arzneimitteltherapie wurden – in einer deutlichen Parallele zu den daoistischen Sozialvorstellungen – in drei Gruppen unterteilt. Die oberste und vornehmste Gruppe der Arzneien („Herrscher“) diente der Langlebigkeit und nährte die Lebensfunktionen (ähnlich wie es als Aufgabe des Herrschers gesehen wurde, das staatliche Gesamtsystem zu harmonisieren, selbst aber nicht aktiv in die Geschäfte der Staatsführung einzugreifen). Die unterste Gruppe („Gehilfen“) wurde mit den Bütteln des Staates verglichen, die die Todesstrafe ausführten. Sie galten als giftig und schienen für die Therapie akuter Erkrankungen geeignet. Die mittlere Gruppe („Minister“) enthielt Substanzen beider Arten.
  • 5
    Während die Nadelbehandlung bei Erkrankungen im Frühstadium eingesetzt wurde, um eine Umkehrung des pathologischen Prozesses zu bewirken, wurden manifeste Erkrankungen durch Diätetik und Arzneikunde behandelt. Der erste Schritt einer Behandlung, so Sun Simiao (581 bis 682?) in seinem Buch Qianjin yifang, ist die Behandlung mit Lebensmitteln. Erst wenn diese keinen Erfolg haben, werden Arzneidrogen eingesetzt: „Der Weg, eine Krankheit zu heilen, führt allein über Arzneidrogen“ (Paul U. Unschuld 1995, S. 22). Die Akupunktur wird hier überhaupt nicht in Erwägung gezogen.
  • 6
    Das Shanghan zahing lun (Über verschiedene durch Kälte verursachte Erkrankungen) von Zhang Zhong Jing wurde wahrscheinlich bereits im 3. Jahrhundert durch Wang Shuhe, spätestens jedoch im 11. Jahrhundert in zwei inhaltlich ähnliche, jedoch strukturell verschiedene Werke geteilt: Zum einen das Shanghan lun (Über Kälteschaden), das 133 Rezepte allein zur Behandlung kältebedingter Erkrankungen beschreibt und die Theorie von Yin und Yang in die Betrachtung dieser Erkrankungen einführt, und zum anderen das Jingui yaolije fang lun (Über die essentliellen Rezepte aus der goldenen Truhe), das 262 Vorschriften gegen vielerlei andere Erkrankungen zusammenfasst.
  • 7
    Das Chuanya unterteilt die Arzneimittelwirkungen in solche, die im Körper aufsteigen, solche, die im Körper absinken, und solche, die einen Krankheitsverlauf oder einen organischen Zusammenhang (z.B. im Fall eines lockeren Zahns) unterbrechen. Zusätzlich beschreibt das Chuanya so genannte Banndrogen zur Bekämpfung von Krankheitserregern, die den Körper oder die Sinne von außen zu belästigen oder zu schädigen und gelegentlich auch in den Körper einzudringen vermögen.            
    In den nachfolgenden Kapiteln werden weitere Heilverfahren beschrieben wie Bannschriftzeichen, Banntechniken, Totenerweckung, lebensrettende Maßnahmen (z.B: bei einem Schädelbruch), Nadelverfahren (Akupunktur), Brennverfahren (Moxibustion), Räucherverfahren, Pflaster, Dämpfe, Waschungen, Hitzekompressen und Atemtechniken. Das abschließende Kapitel mit dem Titel „Spielereien mit Arzneidrogen“ beschreibt „Verfahren, um vom Weingenuss nicht betrunken zu werden“, „Pillen, die Hunger und Durst unterdrücken“, „Verfahren, um Tintenschriftzeichen aus Dokumenten zu entfernen“, „Pillen, die Dämonen sichtbar werden lassen“ u.ä.m.       In der Einleitung zum Chuanya schreibt Zhao Xuemin noch erläuternd, dass er manche ihm unsicher oder problematisch erscheinende Praktiken des Zong Boyun nicht in sein Buch aufgenommen hat, wie z.B. das „Pflanzen“ von Krankheiten in gesunden Menschen, um aus der Behandlung derselben Gewinn zu ziehen.

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