Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur

Bücher

Die Medizin des Gelben Kaisers

Die Schriften des Gelben Kaisers (Huang Di Neijing1Das Huang Di Neijing besteht aus zwei Teilen, dem Suwen (Elementare Fragen) und dem Lingshu (Göttliche Achse). Die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass das Werk aus Textstücken verschiedener Autoren und Zeiten zusammengesetzt ist und sein ältester Kernbereich aus dem 2. Jahrhundert vor Christi stammt. Möglicherweise allerdings sind einige der dort geäußerten Vorstellungen von der Verursachung von Krankheiten durch „Wind“ noch etwas älter. Viele Inhalte jedoch stammen aus den nachfolgenden Jahrhunderten.   
Bereits im 2. Jahrhundert nach Christi suchte ein unbekannter Autor mit dem Nanjing (Klassiker schwieriger Probleme) die heterogenen Inhalte des Huang Di Neijing in ein straffes System zu bringen und dokumentierte auch eine Pulsdiagnostik mit 15 Pulsen gemäß den Fünf Wandlungsphasen. Bis ins 14. Jahrhundert galt das Nanjing als die wichtigste Quelle der antiken Medizintheorie. Erst in der Ming- und Qing-Dynastie wurde das Nanjing zu einem bloßen Kommentarwerk des Huang Di Neijing herabgewürdigt.     
Der uns heute vorliegende und seit der Song-Zeit (960 bis 1270) allen Nachdrucken und Kommentaren zugrunde liegende Text erfuhr seine endgültige Bearbeitung erst im Kaiserlichen Amt für Medizinische Literatur im 12. Jahrhundert. Allein in Japan haben sich in einer Tempelbibliothek umfangreiche Teile einer früheren Version aus dem 8. Jahrhundert erhalten.
 unterscheiden sich inhaltlich sehr deutlich von den in Mawangdui ausgegrabenen Texten. Während die Mawangdui-Texte von elf unabhängigen Gefäßen berichten, werden im Huang Di Neijing höchst komplexe Systeme miteinander verknüpfter Gefäße beschrieben: Zwölf große Leitbahnen (Meridiane), die vom Rumpf zu den Fingern, von den Händen zum Kopf, vom Kopf zu den Zehen und von den Füßen wieder zum Rumpf ziehen. Sie gehen ineinander über und bilden ein durchgängiges Leitungssystem, das zweimal – einmal auf der linken und einmal auf der rechten Körperseite – vorhanden ist. Zusätzlich werden Querverbindungen beschrieben und weitere Gefäße, die an vielen Stellen des Gefäßnetzes entspringen und im Gewebe enden. Qi und Blut fließen in diesem Gefäßsystem und versorgen alle Körperteile und Organe.

Jeder großen Leitbahn ist in den Texten des Gelben Kaisers ein Organ zugeordnet. Diese Organe werden erstaunlich genau beschrieben und auch in ihrer Wichtigkeit bewertet. Es wurde zwischen „Innenspeichern“ (Yin-Organen; hier werden Dinge aufbewahrt, die man nicht wieder abgeben möchte) und „Außenspeichern“ (Yang-Organen; hier werden Dinge aufbewahrt, die bald wieder abgegeben werden) unterschieden.2Später wurde der Begriff des „Außenspeichers“ durch den Terminus „Amtssitz des Gouverneurs“ oder „Palast“ ersetzt. Jedem dieser Paläste ist ein Gouverneur zugeordnet, der über „die Beherrschten“ bestimmt. So residiert umhüllt von der Gallenblase die Leber und ist verantwortlich für das Wohl der Sehnen und Muskeln. Dem „Palast“ des Dickdarms ist der „Gouverneur“ Lunge zugeordnet, die Haut und Körperbehaarung regiert. 
Noch etwas später wurde eine weitere Hierarchie eingeführt. Das Herz wurde mit dem Herrscher, die Lunge mit dem Kanzler, Milz und Magen mit Speicherbeamten, die Leber mit einem General gleichgesetzt. Jedes Organ erhielt auf diese Weise eine Position in der bürokratischen Organisation des Organismus.

Auch wird im Huang Di Neijing eine ganz neue Lehre von den Krankheitsursachen dargelegt. Dämonen und Geister werden ebenso wie Kleinstlebewesen nicht mehr als Verursacher von Erkrankungen in Betracht gezogen. Im Mittelpunkt stehen jetzt Umweltfaktoren wie Wind, Kälte, Nässe, Wärme, Trockenheit und Sommerhitze. Sie werden aber nur als Auslöser betrachtet, nicht als Ursachen. Bei einem einigermaßen maßvollen Leben können die Umweltfaktoren dem Organismus nichts anhaben. Selbstverständlich sollte man sich im Winter warm bekleiden, im Sommer leicht und auch auf andere Weise der Umwelt Rechnung tragen. Wer sich aber durch übermäßige Emotionen wie Trauer, Freude, Grübelei, Zorn, Angst und Sorgen schwächt, so die Lehre des Gelben Kaisers, öffnet damit seinen Organismus zugleich für krankmachende Einflüsse aus der Umwelt.

Der Körper ist diesen eindringenden Faktoren allerdings nicht schutzlos ausgeliefert, vielmehr patrouilliert Qi in den Gefäßen und an der Oberfläche, um den Organismus zu schützen. Der Kampf zwischen eindringenden Krankheitsfaktoren und den Schutztruppen des Qi führt zu typischen körperlichen Reaktionen wie Schüttelfrost und Fieber. Gewinnen die Abwehrtruppen, wird der Eindringling vernichtet. Ist der krankmachende Einfluss allerdings zu stark für die Abwehr, dann schafft er den Weg ins Innere des Organismus und kann dort selbst lebensnotwendige Funktionen beeinträchtigen.

Im Umgang mit Erkrankungen wurde insbesondere die Gesundheitsvorsorge hoch bewertet. Daher finden sich in der neuen Medizin viele Hinweise, wie man die Gefährdungen durch die Klimaeinflüsse vermeidet, wie man seine Gefühle zügeln kann und welche Ernährung man wählen sollte.

„Wenn man [dem natürlichen Lauf von] Yin und Yang folgt, dann [kann man] leben; wenn man ihm zuwiderhandelt, dann [muss man] sterben. Folgt man ihm, dann [entsteht] Ordnung; handelt man ihm zuwider, dann [entsteht] Unordnung. Sich gegen die Anpassung zu wenden, das ist ‚zuwiderhandeln’, das ist die so genannte ‚innere Ablehnung’. Wenn es daher [heißt]: ‚Die Weisen griffen nicht erst dann ordnend ein, wenn eine Krankheit bereits ausgebrochen war; sie ordneten dort, wo noch keine Krankheit bestand. Sie griffen nicht erst dann ordnend ein, wenn es bereits zu Unordnung gekommen war, sie ordneten dort, wo noch keine Unordnung bestand’, so wird dies [durch das oben Angeführte] erläutert. Denn wenn eine Krankheit bereits entstanden ist und man sie erst dann arzneilich behandelt oder wenn Unordnung bereits entstanden ist und man erst dann ordnend eingreift, so ist das vergleichbar damit, einen Brunnen erst dann zu graben, wenn man bereits durstig ist, oder die Waffen erst dann zu schmieden, wenn der Kampf bereits im Gange ist. Wäre das nicht auch zu spät?“ (Huang Di Neijing; Unschuld 1995, S. 30).

Ist eine Erkrankung bereits eingetreten, wurden vor allem Aderlass und Akupunktur angewendet. Beim Aderlass handelte es sich um ein offenbar uraltes Heilverfahren, das aber zunehmend zugunsten der Nadelbehandlung (Akupunktur) in den Hintergrund rückte. Sie wurde angewendet3Die älteren Teile des Huang Di Neijing sind noch durch die Anwendung von Aderlass geprägt. Erst später wich der Aderlass, bei dem sichtbares Blut entfernt wird, der Behandlung mit feineren Nadeln (Akupunktur), bei der das unsichtbare Qi reguliert wird., um den Fluss von Qi und Blut im Organismus zu regulieren.4Bei der Anwendung von „Nadeln“ in der Frühzeit der chinesischen Medizin darf man nicht an die heute bekannte Akupunktur mit ihren feinen (und bruchsicheren) Nadeln denken. Die „Nadeln“ der Frühzeit sind vergleichbar mit „Mini-Schwertern“ oder „Mini-Lanzen“, teilweise waren es auch nur „angespitzte Steine“.

Diese Ansätze wirkten auf einen wichtigen Teil der intellektuellen Führungsschicht so überzeugend, dass sie weiter entwickelt und in der Behandlung von Kranken umgesetzt wurden. Eine neue, naturwissenschaftliche Medizin war geboren und alle Anklänge an die numinosen Mächte der Geister, Dämonen oder Ahnen traten in den Hintergrund. Der Organismus wurde über die Theorie der systematischen Entsprechungen, mit den Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen in den großen naturgesetzlichen Zusammenhang gestellt. Und das neue Bild des Menschen wurde auf die Erklärung aller bekannten Krankheiten und auf alle Lebenssituationen angewendet. Die Gesetzmäßigkeiten von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen erlaubten den Menschen eine Einordnung in ein übergeordnetes Geschehen und verhießen ihm durch Anpassung an diese natürlichen und regelhaften Abläufe ein Leben ohne Krankheiten.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Das Huang Di Neijing besteht aus zwei Teilen, dem Suwen (Elementare Fragen) und dem Lingshu (Göttliche Achse). Die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass das Werk aus Textstücken verschiedener Autoren und Zeiten zusammengesetzt ist und sein ältester Kernbereich aus dem 2. Jahrhundert vor Christi stammt. Möglicherweise allerdings sind einige der dort geäußerten Vorstellungen von der Verursachung von Krankheiten durch „Wind“ noch etwas älter. Viele Inhalte jedoch stammen aus den nachfolgenden Jahrhunderten.   
    Bereits im 2. Jahrhundert nach Christi suchte ein unbekannter Autor mit dem Nanjing (Klassiker schwieriger Probleme) die heterogenen Inhalte des Huang Di Neijing in ein straffes System zu bringen und dokumentierte auch eine Pulsdiagnostik mit 15 Pulsen gemäß den Fünf Wandlungsphasen. Bis ins 14. Jahrhundert galt das Nanjing als die wichtigste Quelle der antiken Medizintheorie. Erst in der Ming- und Qing-Dynastie wurde das Nanjing zu einem bloßen Kommentarwerk des Huang Di Neijing herabgewürdigt.     
    Der uns heute vorliegende und seit der Song-Zeit (960 bis 1270) allen Nachdrucken und Kommentaren zugrunde liegende Text erfuhr seine endgültige Bearbeitung erst im Kaiserlichen Amt für Medizinische Literatur im 12. Jahrhundert. Allein in Japan haben sich in einer Tempelbibliothek umfangreiche Teile einer früheren Version aus dem 8. Jahrhundert erhalten.
  • 2
    Später wurde der Begriff des „Außenspeichers“ durch den Terminus „Amtssitz des Gouverneurs“ oder „Palast“ ersetzt. Jedem dieser Paläste ist ein Gouverneur zugeordnet, der über „die Beherrschten“ bestimmt. So residiert umhüllt von der Gallenblase die Leber und ist verantwortlich für das Wohl der Sehnen und Muskeln. Dem „Palast“ des Dickdarms ist der „Gouverneur“ Lunge zugeordnet, die Haut und Körperbehaarung regiert. 
    Noch etwas später wurde eine weitere Hierarchie eingeführt. Das Herz wurde mit dem Herrscher, die Lunge mit dem Kanzler, Milz und Magen mit Speicherbeamten, die Leber mit einem General gleichgesetzt. Jedes Organ erhielt auf diese Weise eine Position in der bürokratischen Organisation des Organismus.
  • 3
    Die älteren Teile des Huang Di Neijing sind noch durch die Anwendung von Aderlass geprägt. Erst später wich der Aderlass, bei dem sichtbares Blut entfernt wird, der Behandlung mit feineren Nadeln (Akupunktur), bei der das unsichtbare Qi reguliert wird.
  • 4
    Bei der Anwendung von „Nadeln“ in der Frühzeit der chinesischen Medizin darf man nicht an die heute bekannte Akupunktur mit ihren feinen (und bruchsicheren) Nadeln denken. Die „Nadeln“ der Frühzeit sind vergleichbar mit „Mini-Schwertern“ oder „Mini-Lanzen“, teilweise waren es auch nur „angespitzte Steine“.

Pages: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11